Eine neuartige Komplexbehandlung zur Verbesserung der Muskelfunktion bei Poliopatienten

Dr. med. Michel Kraemer

Leistungen der normalen und Fehlleistungen der gestörten Muskulatur. Die Teufelskreise fehlerhafter Steuerungsprozesse.

Man kann schematisch zwei Arten von Muskeln unterscheiden. Solche, die vorwiegend Haltearbeit leisten und solche, die vorwiegend für schnelle Bewegungen zuständig sind.

Es ist ein Naturgesetz, dass während der Arbeit des einen Muskels der jeweilige Gegenspieler weitgehend „abgeschaltet“ wird. Die Muskeln behindern sich dadurch nicht gegenseitig und halten über diese sinnvolle Steuerung trotz der verschiedenen Massen und Stärken ein Gleichgewicht.

Jede Erkrankung von Muskeln und deren Nerven führt zu Störungen dieses Gleichgewichts von Beuge- und Streckmuskeln (Funktionsstörung). Unabhängig von der Ursache der Funktionsstörung reagieren Haltemuskeln mit Verkürzungen und die mit den schnelleren Zuckungsfasern ausgerüsteten Bewegungsmuskeln mit Abschwächung.

Bei dem sogenannten Postpoliosyndrom wird diese Gesetzmäßigkeit besonders bedeutsam: Nicht nur der lang zurückliegende Muskelabbau oder gar die Lähmung mindert die Kraft, sondern auch die zusätzliche „falsche“ Lähmung (Pseudoparese), die entsteht, weil ständig unter erhöhter Spannung stehende Haltemuskeln ihre Gegenspieler dauerhaft an normaler Arbeit hindern, sie ständig “abschalten”. Diese Pseudoparese führt zur Inaktivität einzelner Muskelfasern, die sich deswegen zurückbilden (Atrophie). Die Inaktivitätsatrophie der Bewegungsmuskeln begünstigt wiederum die Verkürzungstendenz der Haltemuskeln. Es kommt zu einem Teufelskreis, in dem Eines das Andere bedingt. Eine zusätzliche und wichtige Ursache der Muskelschwäche ist also die beschriebene Funktionsstörung der Muskulatur und nicht die ursprüngliche Polioerkrankung.

Muskeln produzieren nicht nur Kraft und Körperwärme, sondern sind auch Sinnesorgane, indem sie Daten zur Eigenwahrnehmung des Körpers beitragen. Das Gehirn arbeitet wie ein Computer, erkennt die Ausgangslage der Gliedmaßen und errechnet für jede einzelne Muskelfaser Befehle, die zu geordneten Haltungen und Bewegungen führen. Wenn Muskeln funktionsgestört sind, sind sie es auch als Sinnesorgan. Sie liefern dann verfälschte Sinneseindrücke. So kommt es zu Falschmeldungen an das Gehirn, das dann auch nur unstimmige Befehle ausgeben kann.

Der Poliopatient kann nicht etwa wegen seiner Schwäche nicht auf einem Bein stehen. Er stürzt vor allem, weil seine verfälschte Eigenwahrnehmung aus funktionsgestörten Muskeln stammt.

Leistungsfähigkeit, Bewegungskoordination, Eigenwahrnehmung und Trainierbarkeit werden demnach nicht nur durch die unheilbaren Lähmungen der Poliomyelitis bestimmt. Die Funktionsstörungen der Muskulatur spielen eine teilweise sehr bedeutsame Rolle als Behinderung in zweiter Linie. Das wichtigste Ziel der Behandlung ist deshalb die Bekämpfung der Muskelfunktionsstörungen.

Gelingt es, die zugrundeliegenden Steuerungsprozesse günstig zu beeinflussen, das heißt den Teufelskreis zu durchbrechen, kann die noch vorhandene Muskulatur besser koordiniert und gekräftigt werden. Die Grunderkrankung wird dadurch allerdings nicht beeinflusst.

Kommt es nicht dazu, die Teufelskreise zu unterbrechen, geht mit der Zeit die ihrer Natur nach besserungsfähige Funktionsstörung in eine nicht rückgängig zu machende Veränderung der Muskeln über: es kommt zu zusätzlichem Abbau und zu Schrumpfungen (Kontrakturen) der Struktur der Muskeln im Sinne von zum Beispiel Hohl- und Spitzfüßen mit der Folge des Gangverlustes, zu Skoliosen oder zu dem Unvermögen, den Ellenbogen zu strecken. Aufgrund von Überlastungen der vorhandenen Muskulatur kann es auch zu Schmerzen, Gelenkverschleiß und vor allen Dingen zu weiterem Untergang von Muskelfasern kommen.

Das Konzept der Komplexbehandlung

Um das Problem anzugehen, wurden in 15-jähriger Entwicklungsarbeit verschiedene Angriffspunkte erprobt. Daraus entstand die Konzeption der Komplexbehandlung mit folgenden Bestandteilen:

Atlastherapie nach Arlen

Sie wirkt auf den besonders dicht mit Nerven versorgten Nacken, der für die Steuerung der Spannung der gesamten Muskulatur des Körpers und des unwillkürlichen Nervensystems (Vegetativum) mitverantwortlich ist. Die Atlastherapie ist eine besonders schonende, nahezu risikolose Methode der ärztlichen Manuellen Medizin.

Chirotherapie

Sie lindert die gestörte Gelenkmechanik der Wirbelsäulen- und Gliedmaßengelenke. Die durch die Physiotherapeuten eingesetzte Mobilisationstechnik (Manuelle Therapie) ohne Impuls ist allerdings nicht ausreichend.

Es ist ein altes Märchen aus den fünfziger und sechziger Jahren, dass wiederholte Behandlungen die Gelenke „ausleiern“ und zu Instabilitäten führen würden. Mit den Techniken von heute besteht diese Gefahr nicht mehr. Der Arzt muss nur mit diesen Techniken vertraut sein. Die Behandlung hat in jedem Fall schmerzlos zu erfolgen.

Extrakorporale Stoßwellen

Es handelt sich um auseinanderstrebende (nicht fokussierte) Stoßwellen, die Muskeln und Nerven reizen.

Myofasziales Lösen nach Ward

Eine besondere Rolle spielen die Spalthäute (Faszien), die die Muskeln als spiegelnde Haut eng umscheiden. Sie sind dicht mit Nerven durchsetzt, die dem unwillkürlichen (vegetativen) Nervensystem Informationen geben. Über elektronische Verschaltungen, besonders auf der Rückenmarksebene, stehen das Steuerungssystem der Körpermuskulatur und das der Faszien in enger Verbindung miteinander. Das myofasziale Lösen lindert Ungleichgewichte und Asymmetrien der Konsistenz (Viskoelastizität) der Muskulatur. Es gehört zu den sanftesten aller manualmedizinischen Methoden.

Krankengymnastik fördert die Umsetzung der erzielten Verbesserungen der Muskulatur in neue, verbesserte Haltungs- und Bewegungsmuster.

Die Atlastherapie wirkt auf die Tonussteuerung, die Chirotherapie und die extrakorporalen Stoßwellen auf die örtlichen biomechanischen Störungen und das myofasziale Lösen über das Vegetativum auf die Viskoelastizität der Muskeln.

Allen genannten Techniken ist gemeinsam, dass sie die Biomechanik von Muskeln und Gelenken und damit auch die Eigenwahrnehmung verbessern. Verbesserte Eingangsdaten erlauben dem Gehirn, sinnvollere Befehle zu geben und bessere Bewegungsmuster zu finden. Die Behandlung mit Manueller Medizin bringt brachliegende Teile des Bewegungssystems wieder in Reichweite der Steuerung. Sie zeigt dem Steuersystem, wie es besser arbeiten könnte.

Voraussetzungen und Ablauf

Die Rehabilitation der von Polio Betroffenen kostet Zeit und Geld. Sie ist insofern belastend. Deswegen muss in jedem Einzelfall abgewägt werden, ob sich ein wirklich lohnendes Therapieziel formulieren lässt. Enttäuschte Hoffnungen müssen unbedingt vermieden werden.

Wer im Rollstuhl sitzt, wird nicht mehr auf die Beine kommen, vielleicht aber seine Hände freier gebrauchen können und besser atmen. In der Funktion verkürzte Muskeln lassen sich bessern. In der Struktur verkürzte Muskeln werden nicht länger. Was verschwunden ist, wächst nicht neu. Nur noch vorhandene Muskulatur kann in der Funktion verbessert und wieder trainierbar werden. Auch die Geschwindigkeit des Fortschreitens eines Muskelabbaues bei Postpoliosyndrom spielt eine Rolle.

Der langjährigen Erfahrung nach müssen über 2 bis 3 Wochen täglich Behandlungen der Muskulatur, der Wirbelsäule und der Gliedmaßengelenke durchgeführt werden, um dem durch jahrelange Gewöhnung geschädigten Steuerungssystem immer wieder den rechten Weg zu weisen.

Nach den manualmedizinischen Behandlungen durch den Arzt muss unbedingt noch am gleichen Tag durch geeignete Massagen und Krankengymnastik, gegebenenfalls auch Ergotherapie die neue biomechanische Freiheit benutzt und ausgebaut werden, um zu einem Umerziehungs- aber auch Trainingseffekt zu kommen.

Das einmal verbesserte Steuerungssystem neigt selbstverständlich bei den weiter bestehenden neurologischen Grunderkrankungen immer wieder zum Abgleiten in die alten ausgetretenen Pfade der Funktionsstörungen, so dass in der Regel in individuell festzulegenden, meist mehrwöchigen Rhythmen eine Einzelbehandlung mit Manueller Medizin nötig wird, um die Biomechanik der Muskulatur zu erhalten und zu pflegen.

Diese in Intervallen durchzuführenden Behandlungen werden heimatnah durch entsprechend ausgebildete Ärzte gewährleistet. Es muss also eine ununterbrochene Behandlung durchgeführt werden, deren Ziel im Sinne des Sozialgesetzbuches die Linderung von Leiden ist.

Ergebnisse und Erfahrungen

Bisher wurden rund 50 Betroffene mit der Komplexbehandlung unter Einschluss der Manuellen Medizin behandelt.

Die muskulären Funktionsstörungen der Polio reagieren während der 2-3-wöchigen Komplexbehandlung mit unmittelbarer Verbesserung der Muskelkraft. Danach kommt es zu einer mehrwöchigen bis mehrmonatigen Funktionsverbesserung im Sinne erweiterter Trainierbarkeit.

Die Kosten

Die Väter der gültigen Kassengebührenordnung konnten die jüngste Entwicklung der Manuellen Medizin und der extrakorporalen Stoßwellen zur Behandlung neurologischer Krankheitsbilder nicht erahnen. Die Anwendung Manueller Medizin unterliegt in der Kassenmedizin erheblichen Beschränkungen. Atlastherapie und myofasziales Lösen kommen in den Gebührenordnungen gar nicht vor. Alles, was in den Gebührenordnungen der gesetzlichen Krankenkassen nicht aufgeführt ist, kann von den Kassen auch normalerweise nicht bezahlt werden.

Diese Rechtslage macht die Durchführung der beschrieben Rehabilitationskonzeption auf der Basis einer mehrwöchigen Komplexbehandlung auf Krankenschein unmöglich.

Solange die Gebührenordnungen nicht geändert werden oder Sonderverträge mit den Kassen noch nicht bestehen, erhält der Patient deshalb eine Privatrechnung, über deren Ausgleich er mit seiner gesetzlichen Krankenkasse diskutieren kann. Für privat versicherte Patienten sollte es keine Schwierigkeiten zur Kostenerstattung geben.

Korrespondenzadresse:
Ambulanz für Manuelle Medizin Rheintalklinik
Im Rheintal 5, 7989 Bad Krozingen