Rehamaßnahmen bei PPS-Patienten

Vortrag auf der 1. Jahreshauptversammlung der Polio Initiative Europa e.V.
am 15. Juli 2000 in Borken

Referent: Dr. med. Stefan Schumacher, Chefarzt der Neurologischen Abteilung der Wicker-Klinik in Bad Wildungen und Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Polio Initiative Europa e.V.

Das Post-Polio-Syndrom ist definiert als eine zunehmende Schwäche nach einer Erstinfektion, sie tritt meist nach einer stabilen Phase von 20 Jahren auf. Jedoch kann die Erstsymptomatik wesentlich später liegen, oft nach 40 bis 50 Jahren. Meistens ist der Verlauf langsam fortschreitend. Es werden sowohl früher befallene als auch völlig neue Muskelgruppen betroffen. In der Literatur findet sich das Post-Polio-Syndrom häufiger bei Patienten mit schweren Erstinfektion mit Beatmung und Lähmung aller Arme und Beine. Dies kann ich aus meiner mehrjährigen Arbeit mit Polio- und PPS-Patienten nicht bestätigen, bei meinen Patienten findet sich das Post-Polio-Syndrom bei allen verschiedenen Formen der Erstinfektion.

Erlauben Sie, die Klinik in der ich als Chefarzt seit dem 11.06.1997 arbeite, kurz vorzustellen:

Die neurologische Abteilung der Wicker-Klinik Bad Wildungen umfasst 160 Betten, angeschlossen in der Wicker-Klinik sind die Abteilungen Psychosomatik / Psychotherapie mit 140 Betten und die Abteilung Innere Medizin mit 30 Betten. Bei der Wicker-Klinik handelt es sich um eine Rehabilitationsklinik zur Behandlung von Patienten mit sämtlichen neurologischen Erkrankungen. In der Jahresstatistik 1999 waren unsere 3 häufigsten Krankheitsgruppen mit jeweils ca. 18 bis 20 %:

  • Multiple Sklerose
  • Schlaganfälle
  • Rückenbeschwerden einschl. Z.n. Bandscheiben-Operationen

Jedoch finden sich in unserer Klinik auch andere Krankheitsbilder, so auch durch meine Auseinandersetzung mit dem Krankheitsbild der Poliomyelitis, Polio- und Post-Polio-Patienten. Die Wicker-Unternehmensgruppe umfasst 13 Rehabilitationskliniken und 2 Akutkliniken in Bad Zwesten und Bad Wildungen-Reinhardshausen. In der letztgenannten Klinik, der Werner-Wicker-Klinik Bad Wildungen werden auch Patienten mit Folgeschäden nach Polioinfektionen be-handelt. Zu nennen sind hier die Skoliose-Operationen und die langjährigen Mitarbeiter in den Polio-Selbsthilfegruppen: Herr Dr. Walther und Frau Dr. Meister, Chefarzt bzw. Oberärztin der Abteilung Anästhesie.

Bevor ich auf das Behandlungskonzept für PPS-Patienten eingehe, möchte ich noch kurz auf die Wichtigkeit der richtigen Diagnose hinweisen. Ich unterscheide in Anlehnung auch an die mir vorliegende Literatur zwischen einem Post-Polio-Syndrom, Folgezuständen einer Polioprimärinfektion und anderen Ursachen der Beschwerden. Hierzu ist eine genaue Diagnostik mit exakter klinischer Untersuchung, ausgiebiger Erhebung der Krankheitsgeschichte und eventuell zusätzlich apparativer Untersuchungen wie EMG notwendig. Für mich ist die Diagnose eines Post-Polio-Syndroms unter folgenden Voraussetzungen gegeben:

  • Nachgewiesene Primärinfektion mit Polio,
  • stabiler Periode nach der Erkrankung von 10 bis 15 Jahren,
  • danach Beginn mit mindestens 2 der folgenden Störungen:
    • Muskel- und/oder Gelenkschmerzen,
    • neue Schwächen in einzelnen Muskeln,
    • Kälteintoleranz, Atrophie.

Wie bereits gesagt betrifft die Schwäche auch nicht betroffene Muskelgruppen. Hier ist eine wirklich exakte Diagnostik Voraussetzung. Beispielsweise sollte bei einem Patienten, bei dem die Polioinfektion in erster Linie das rechte Bein vor 30 Jahren betraf, bei einer plötzlichen Lähmung des linken Armes nach einer aktiven körperlichen Tätigkeit eine Schulter-Amyotrophie oder andere orthopädische Ursachen dieses Symptoms ausgeschlossen werden. Die PPS-Patienten berichten jedoch auch oft über eine Schwäche in den vorher betroffenen Muskeln nach oft jahrzehntelanger Beschwerdefreiheit. Ein eher schleichender Verlauf und erfolglose medizinische Behandlungen sollten den PPS-kundigen Arzt aufhorchen lassen! Ich möchte noch auf 2 eher unspezifische Symptome des Post-Polio-Syndroms eingehen. Zum einen findet sich bei vielen meiner Patienten eine zunehmende Schwäche und Erschöpfbarkeit. Hierfür gibt es durchaus pathophysiologische Erklärungen und sehr gute, insbesondere amerikanische Veröffentlichungen in den letzten Jahren zu diesem Problem.

Ein nach meiner Meinung in der Literatur eher vernachlässigtes Symptom bei PPS-Patienten sind die oft diffusen Muskeln oder Gelenkschmerzen, auch oft in Kombination auftretend. Diese sind für die Patienten nicht nur subjektiv äußerst lästig, sondern treten auch nach jahrzehntelanger Beschwerdefreiheit auf und führen zu wahren „Odysseen“ von Arzt zu Arzt und erfolglosen therapeutischen Versuchen. Wenn andere pathologische Ursachen für eine eher diffuse Schmerzsymptomatik ausgeschlossen sind und der Arzt dieses Symptom als Ausdruck eines Post-Polio-Syndroms begreift, sollte eine gezielte Schmerztherapie erfolgen unter Einsatz nicht nur von Medikamenten, sondern auch von zusätzlichen Hilfsmitteln wie TENS, Akupunktur oder elektro-therapeutischen Verfahren. In den letzten Jahren sind nicht nur in den Großstädten zahlreiche schmerz-therapeutische Zentren und Ambulanzen entstanden, diese dienen nicht nur der besseren Behandlung der Patienten, sondern auch oft der Unterstützung des Hausarztes.

Was kann nun eine Rehabilitationsklinik in der Behandlung von PPS-Patienten erreichen? Zunächst einmal möchte ich Ihnen etwas völlig Banales mitteilen, was jedoch m. E. ungeheuer wichtig ist und überhaupt die Voraussetzung für die Behandlung von PPS-Patienten ist. In einer Klinik, die mit PPS-Patienten arbeitet, sollte jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin über das Krankheitsbild Bescheid wissen! Dies ist leider oft noch nicht der Fall. Das ist aus dem Grund so wichtig, weil die Behandlung von PPS-Patienten sich doch in den einzelnen Therapieabteilungen oft unterscheidet von anderen Krankheitsbildern und insbesondere der „Balanceakt“ zwischen aktivierender Therapie und Entspannung extrem wichtig ist. Für manche Krankheitsgruppen in einer Rehabilitationsklinik wie z.B. Patienten nach einer lumbalen Bandscheiben-OP, gibt es durchaus standardisierte Therapiepläne, die auf alle Patienten mit geringen Abweichungen anwendbar sind. Dies ist bei PPS-Patienten nicht nur wegen der unterschiedlichen Schwere der Erkrankung, sondern auch wegen der sehr unterschiedlichen Symptome und Verlauf der Erkrankung nicht der Fall. Um so wichtiger ist m. E. daher, dass tatsächlich jeder vom Chefarzt über die Therapeuten bis zum Fahrer und Putzfrau der Klinik über das Post-Polio-Syndrom informiert ist und mit dem Patienten entsprechend umgehen kann. Auch sollte eine Rehabilitationsklinik heutzutage in der Lage sein eine entsprechende Diagnostik durchzuführen. Die Kolleginnen und Kollegen in den Akutkliniken und den niedergelassenen Praxen haben oft heutzutage nicht die Zeit unter dem Druck des Budgets und der Kostenträger sich ausreichend um Patienten diagnostisch zu kümmern. Eine neurologische Fachklinik zur Behandlung von PPS-Patienten sollte eine Standarddiagnostik bei PPS-Patienten durchführen können, wenn notwendig umfasst dies auch eine Lungenfunktionsdiagnostik.

Der wichtigste Baustein in der Rehabilitationstherapie von PPS-Patienten ist sicher eine wohl dosierte Physiotherapie. Diese kann sowohl in Einzel- als auch in Gruppenform stattfinden, hier gibt es bekanntermaßen verschiedene Schulen, wie Bobath, Vojta, Akupressur etc.. Wichtig ist, unabhängig von der jeweiligen Ausrichtung eine gute Kräfteeinteilung in der Physiotherapie. Das Richtmaß für die Physiotherapeuten sollte der Einsatz von ca. 60 % der normalen Kraft und 60 % Wiederholungen sein, auf keinen Fall sollte „bis zum Umfallen“ trainiert werden.

Die aktivierenden Übungen der Physiotherapie sollte am Vormittag stattfinden, der Therapeut sollte nicht nur über die richtige Physiotherapie sondern auch über z. B. Hilfsmittel Bescheid wissen. Wichtige Therapieeinheiten sind in der Rehabilitationsbehandlung von PPS-Patienten: Übungen im warmen Wasser, Schulung von Koordination und Feinmotorik in der Ergotherapie, Hilfsmittelberatung, Überprüfung und Einstellung der Medikamente sowie eine gezielte Schmerzbehandlung (Prüfung der Gabe von Opiaten, TENS-Verschreibung und andere).

Ausdrücklich betonen möchte ich nochmals an dieser Stelle, dass es keinen „Waschzettel“ für die Therapie mit PPS-Patienten gibt und ich Ihnen hier nur einige Schwerpunkte nennen möchte, die durchaus individuell von Patient zu Patient sich unterscheiden können.

Sollte die Diagnose eines Post-Polio-Syndroms nicht sicher sein, sollte sich eine Rehabilitationsklinik nicht scheuen dies zu äußern. In unserer heutigen Medizin ist oft der Zwang vorhanden sich auf eine Diagnose festzulegen. Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass ich inzwischen eine ganze Reihe von Patienten gesehen habe, bei den ich mir nicht sicher bin, ob ein PPS vorliegt und auch bei denen sämtliche apparativen und klinischen Untersuchungen keine Eindeutigkeit ergaben. Hier sollte die Diagnose immer mit einem Fragezeichen versehen werden und eine Aufgabe nicht nur des betreuenden Arztes, sondern auch einer Rehabilitationsklinik, sollten in einer sorgfältigen Verlaufsbeobachtung und Dokumentation von wiederholten Untersuchungen seien. Auch ist die Abstimmung mit dem behandelnden Arzt am Heimatort und Vermittlung von kompetenten Therapeuten ein wichtiger Inhalt der Rehabilitation.

Lassen Sie mich bitte zum Abschluss meines Vortrags die wesentlichen Ziele einer Rehabehandlung von Polio- und Post-Polio-Patienten zusammenfassen:

  • Kraft und Funktion verbessern, ohne Überforderung,
  • Stichwort: „Aktiv sein mit Pausen“!
  • Schmerzen reduzieren.
  • Optimale medikamentöse Einstellung.
  • Gute Ausschlußdiagnose erstellen.
  • Möglichst alle 2 Jahre eine Rehamaßnahme von 3 bis 4 Wochen anstreben.

Ich könnte an dieser Stelle noch auf weitere wichtige Therapieeinheiten wie z. B. Psychologie oder die Sozialberatung eingehen, ohne die das Gelingen einer Rehabilitationsmaßnahme nicht zustande kommt.

Dies würden jedoch wieder eigene Vorträge sein und daher möchte ich mich an dieser Stelle sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit bedanken und stehe Ihnen selbstverständlich nach dem Vortrag für Einzelgespräche gern zur Verfügung. Herzlichen Dank für Ihr Interesse.

Dr. med. Stefan Schumacher
Arzt f. Neurologie/Psychotherapie
- Chefarzt -