Erst Poliomyelitis...
und dann Post-Polio- (Motoneuron-) Syndrom?

Eine Krankheit kehrt zurück

Jahrzehnte nach der Kinderlähmung kommt es erneut zu extremer Muskelschwäche. Kinderlähmung oder Poliomyelitis wurde in wirtschaftlich und wissenschaftlich fortschrittlichen Industrienationen mit Impfkampagnen fast ausgerottet. Dadurch sind die Poliomyelitiker in Vergessenheit raten. Noch dazu ist der Begriff Kinderlähmung sehr irreführend, da sich auch Erwachsene mit dem Polio-Virus infizieren können. Dieser befällt vorwiegend die Vorderhörner im Rückenmarkt und löst eine Entzündung aus. Heute gerät die Kinderlähmung mehr und mehr in Vergessenheit, nicht aber bei den Betroffenen. Die meisten haben zäh und entschlossen an ihrer Wiederherstellung mitgearbeitet, ihren Lebensweg selbstbestimmt und hatten Erfolg. Aber bei vielen beginnen sich jetzt Spätfolgen der Polio bemerkbar zu machen – Müdigkeit, neue Muskelschwächen, Schmerzen, Schlaf- und Atemprobleme. Die Folge: Immer mehr Funktionsverluste.

Häufigste Spätfolgen-Symptome

  • Ungewöhnliche Müdigkeit mit rascher Muskelerschlaffung und/oder dem Gefühl totaler Erschöpfung
  • Neue Muskelschwäche – sowohl in den ursprünglich betroffenen als auch in nicht betroffenen Muskeln
  • Muskelkrämpfe
  • Unwillkürliche Muskelzuckungen (Faszikulation)
  • Schlafprobleme
  • Atemprobleme
  • Temperaturregulationsstörungen (etwa Neuauftreten kalter Hände und/oder Füße)
  • Schwierigkeiten beim Schlucken
  • Funktionseinbußen

Ärzte und Therapeuten sind über die Symptome des Post-Polio-Syndroms meist nicht ausreichend informiert und können sich daher auf die neue Situation ihrer Patienten schlecht einstellen. Viele Polio-Betroffene beklagen, dass sie sich nicht ernst genommen fühlen. Ihre Probleme werden gerne auf das fortgeschrittene Lebensalter zurückgeführt. Nicht selten erhalten sie auch Verordnungen, die kontraindiziert sind (falsche Medikamente, Krafttraining etc.) oder werden in einen umfangreichen Begutachtungskreislauf weitergeschickt. Einen spezifischen Test, mit dem man Polio-Spätfolgen nachweisen könnte, gibt es nicht. Daher kann die Diagnose nur darauf beschränkt werden, andere Erkrankungen auszuschließen. Für die Befund "Post-Polio-Syndrom", der den Symptomenkomplex zusammenfasst, orientieren sich die meisten Kliniker an fünf Kriterien:

  • Glaubhaft sichere Vorgeschichte einer Poliomyelitis
  • Im Elektromyogramm (EMG) typische Abweichungen, die auf eine frühere Polio hindeuten
  • Nach der Besserung und einer Phase gewisser Stabilität zwischen akuter Erkrankung und Auftreten neuer Schwierigkeiten
  • Langsam oder akut einsetzende, nicht durch Inaktivität bedingte Muskelschwäche. Ungewöhnliche Müdigkeit, Muskel- und Gelenkschmerzen, Ausdauerverlust, Funktionseinbußen, neuer Muskelschwund (Athrophie)
  • Andere Ursache für die unter Punkt 4 genannten Anzeichen fehlen

Aus der Sicht der Patienten scheint die Terminologie noch uneinheitlich zu sein. Gewiss kann erst eine bessere Erforschung der Ursachen zu exakten und allgemein akzeptieren Fachbegriffen führen. So wurden – um die vielfältigen Probleme unterscheiden zu helfen – folgende Definitionen vorgeschlagen:

Post-Polio-Syndrom (PPS) – der Komplex von Symptomen mit neuer Muskelschwäche und/oder Schmerzen, der zu neuen Behinderungen und Funktionseinbußen führt.

Spätfolgen von Polio – neue Gesundheitsprobleme durch poliobedingte Fehlhaltung und Fehlstellungen mit chronischer Überlastung von Gelenken und Weichteilgewebe, z. B. Arthrose der Hüft-, Knie-, Hand-, Schulter- und Fingergelenke; Karpaltunnel-Syndrom, Schleimbeutel- und Sehnenscheidenentzündung (nach Langzeitgebrauch von Gehhilfen oder handbetriebenem Rollstuhl).

Selbstverständlich können auch neue Gesundheitsprobleme auftreten, die nichts mit der Polioerkrankung zu tun haben. Sie müssen geklärt und behandelt werden.

Poliobedingte progressive Muskelatrophie (PPMA) – fortschreitende, therapeutisch nicht beeinflussbare neue Schwäche und/oder Atrophie in Muskeln mit klinischen oder subklinischen Zeichen chronischer partieller Denervation/Reinnervation. (Dagegen lassen sich durch Über- oder Unterforderung geschwächte Muskeln mit individueller, vorsichtig und konsequent durchgeführter Gymnastik bis zu einem gewissen Grad etwas kräftigen. Von Vorteil ist unter Umständen die Entlastung durch eine Schiene oder Benutzung eines Rollstuhls.)

Alle beschriebenen Probleme können sich sowohl einzeln als auch in verschiedenen Kombinationen bemerkbar machen!

Vernünftige Lebensgestaltung, Information und Erfahrungsaustausch mit anderen Polio-Betroffenen hilft auch, mit den Spätfolgen fertig zu werden.

Der erste Schritt von Vorbeugung und Therapie sollte in einer allgemeinen medizinischen und neurologischen Untersuchung bestehen. Dort muss abgeklärt werden, ob und in welchem Umfang Polio-Spätfolgen bestehen. Die Lebensqualität ist nur durch frühzeitige Feststellung der Polio-Folgeschäden und den Einsatz von geeigneten (schonenden) Therapiemaßnahmen aufrecht zu erhalten.

Überanstrengung unbedingt vermeiden!

Viele Betroffene von Polio haben ihren geshädigten Muskeln zu viel zugemutet. Sie haben noch und noch kompensiert, stets viel leisten wollen und so geschwächte Muskeln übermäßig belastet. Es ist höchste Zeit, die Lebensweise zu überprüfen und über Kräfteeinsparung nachzudenken.

Kompetente Ärzte mit Polio-Erfahrung raten daher:

  • Auf den Körper „hören“
  • Mit Zeit und Kräften „haushalten“
  • Nicht forciert üben, im Thermalwasser schwimmen
  • Sich nicht übernehmen, Ermüdung durch Anstrengung sollte nach 10 Minuten überwunden sein
  • Sobald starke Müdigkeit auftritt, genügend lange Pausen einlegen
  • Übergewicht vermeiden oder reduzieren
  • Nicht rauchen, wenig Alkoholkonsum
  • Narkotika, auch Schmerzmittel, meiden.
  • Häufiger Hilfsmittel gebrauchen (Gehstock, Rollator) oder Umstellung auf andere Geräte, z. B. auf Elektro-Rollstuhl oder -Dreirad) kann Therapie sein.